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…im Auftrag, gezeichnet…Aber wo ist das Croissant?

Sechsuhrvierundvierzig. Hagemanns Tag beginnt. Nicht, dass er Frühaufsteher sein will. Nein, ganz und gar nicht. Aber gewisse Regelmäßigkeiten lassen den Tag strukturierter erscheinen. Die Digitalanzeige blinkt, das Radio schaltet sich zur voreingestellten Zeit mit Musik ein und reißt ihn aus tiefsten Träumen. Schon vor Dusche und Frühstück wird schon mal die ganz reale Welt serviert, mit Korrespondentenerläuterungen und Nachrichtengebrabbel und Wetterbericht. Nun ist aber auch gut, Hagemann rollt sich aus dem Bett. Es folgen werktäglich wiederkehrende Abläufe bis hin zur Bahn, bis hin zum Bus.

Gerade aus dem Haus, hält Hagemann inne, wie an jedem Morgen. Hagemann inhaliert den Tag, lauscht auf die Geräusche im Hof, das Vogelgezwitscher, Kindergeplärre, Müttergeschimpfe, Mülltonnengeschiebe, Handwerkergetrampel. Geräusche überall. Gerüche allerdings sind unterrepräsentiert in diesem Teil der Stadt. Leider sind keine Backstuben in der Nähe, aus denen Croissants duften könnten. Hagemanns Schnupperbedürfnis wird somit mal wieder nicht befriedigt. Schade, also weiter. Er setzt Fuß vor Fuß, absolviert seinen Weg wie fast jeden Tag und wundert sich überhaupt nicht, warum er immer häufiger an Albert Camus‘ Sisiphos denken muss.

 

Hagemann setzt sich, der erste Teil des Tages ist geschafft. Ein Blick aus dem Fenster, draußen ist es noch dämmrig. Seminarräume im Gebäude gegenüber sind hell erleuchtet, weiße Wände, cremefarbene Tische, blauer Boden, Tische sind in einer großen Runde aufgestellt, offensichtlich liegen Mappen bereits auf den Plätzen bereit, einige Stühle sind schon besetzt mit Frauen und Männern mittleren Alters (aber was, bitteschön, ist hier schon wieder der Bezugspunkt, erwischt sich Hagemann beim monieren). Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, vielleicht muss sich die Zusammensetzung erst noch finden? Händeschütteln. Nicken. Kaffeetassen werden herumstolziert, Stifte platziert, Taschen verstaut. Ein Grauhaariger schließt die Tür, es geht wohl los dort drüben. Hagemann seufzt und fragt sich, wie so oft in letzter Zeit, was solche Treffen wohl bewirken. Sind sie nur Bestätigung des Altbekannten oder bringen sie wirklich neue Einsichten und Qualifikationen? Warum tun sich diese Leute das an? Haben denn diese Menschen keine Freundinnen oder Freunde, mit denen sie Kaffeetrinken, Eisessen, Biertrinken oder Minigolf spielen können? Hagemann schaut auf, sieht über dem Nachbargebäude den Vollmond stehen, er bemerkt, dass Autos über die Straße rollen - hören kann er sie nicht, schalldichte Fenster dichten diesen Teil der Welt von den Geräuschen dort draußen ab. Hagemann fühlt sich ausgeschlossen, steht auf, bestellt sich ein Taxi. Eine Stunde eine Runde durch die Stadt. Einfach so.

 

Zurück. Die Besprechung läuft, wie schön, auch ohne ihn. Er nimmt wieder Platz am reservierten Platz, schaut in die Runde: Menschen an Tischen versammelt, manche dahinter Schutz suchend, manche gelangweilt, manch andere karrieresteinchenzusammenbastelnd. Alle sind, alles ist wichtig, oder auch nicht. Heute ist mal wieder Verschiebebahnhof für Anliegen, Themen und Papiere angesagt. Große Augen, fragende Blicke, aufgeregtes Köpfedrehen, politbürokratisches Kauderwelsch verbreitend. „…ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Druckerzeugnisse…“ …Aber nur, wenn die Erzeugnisse auch gelesen werden? Gilt ansonsten der volle Satz? Hagemann grinst. 

Hier sind sie alle versammelt: Blätterraschelnde und Aktenschieber, Begründungsgestammelversager und kopfsenkende Kugelschreiberbeweger und aufmerksamkeitserhaschende Wortverdreher. 

„Einwohnerwertung“ – „Was machen wir damit?“ 

Und dann noch „…das zweite FiMaNoG“. Im Auftrag, gez. Rönnpangel…

Hagemann nickt weg. 

Stimmengemurmel, Beamtennichtaktivitäten, Abkürzungsgewimmel, situiert saturiertes Trägheitsgefühl, finale Bedenkenfreiheitsablehnung, Blackberrytippsereien, Aufmerksamkeitsdefizitbeobachter, Hausspitzenbefassungsorgan, Kulturkomiker, Nervositätsableiter.  Wortgetüme toben durch Hagemanns Kopf. Hier muss die Hölle sein, Albträume.

„…das ist alles allein fachlicher Natur…“ Das ist doch ein Widerspruch in sich, protestiert Hagemann. Erfolglos. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her, reckt und dehnt seinen Hals, bearbeitet seine Schläfen, kneift sich in die eigene Wange, er will sich spüren. Tief atmet er ein, angewidert saugt er die altpapiergeschwängerten Beamtenausdünstungen ein, bemerkt die bleierne Schwere seiner Glieder, kreuzt die Beine von linksnachrechtsundrechtsnachlinks. Er stöhnt. Hagemann gähnt, herzhaft und laut. Befreiend. Aber: wo ist der Bäcker? Und wo das Croissant?

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